Der Strassenrausch in Kracauers ‚Strassen’

2005, von Amy Lang

 

 



Inhaltsverzeichnis

 

(1)       Einleitung..........................................................................................       1

(2)       (Strassen-)Rausch...........................................................................        3

(3)       Erinnerung an eine Pariser Strasse ................................................        5

(4)       Strasse ohne Erinnerung.................................................................        8

(5)       Abschied von der Lindenpassage ..................................................         9

(6)       Lokomotive über der Friedrichstrasse..............................................      11

(7)       Die Unterführung .............................................................................      11

(8)       Schlussbetrachtung           ...............................................................      12

(9)       Bibliographie ...................................................................................       14

 

 

 

        To walk is to vegetate,

to stroll is to live.

- Balzac

 

(1) Einleitung

 

Ganz besonders die grossen Metropolen zeichnen sich durch die Übermacht an dem Individuum Entfremdeten aus: „Staatsgewalt und Kapital, technische Automatisierung und institutionelle Organisation, Komfort der zirkulierenden Waren und Kulturbetrieb“[1]. Ordnungs- und Verkehrsmedien werden eingeschaltet um die zunehmende Unordnung zu kanalisieren, eine enorme Quantität an roher Energie wird investiert um das Kräftespiel im Raum aufrecht zu erhalten. So werden neue Verkehrssysteme geschaffen, die die Stadt immer schneller bewegen und neue Kommunikationssysteme fordern. Wegweisende Piktogramme mit imperativem Charakter und Embleme der vorherrschenden globalen Firmen prägen das Panorama und mögen so manchen Städter über-fordern.  

 

Der Verkehr hat zur Folge dass die Stadt topografisch nicht mehr stabil ist; sie wird zur kinetischen Kategorie, in welcher nicht mehr die Architektur oder das soziale Gebilde im Vordergrund stehen, sondern die Beschleunigung. Die Metropole als energetisches Quantum mit eigenem Zeichensystem wird zur Halluzination, sie verflüssigt sich im Bewusstsein des Betrachters.

 

Als Passanten vor etwa einem Jahrhundert zunehmend zu Passagieren wurden, schritt der Flaneur im Angesicht seiner immer schneller werdenden Umgebung mit bedachten Tritten die Strassen einer bewegten Grossstadt entlang. Was sich ihm dabei bot, und was einige Köpfe der schreibenden Zunft anschliessend in Form einer neuen literarisch-publizistischen Gattung zu Papier brachten, waren einzigartige Wahrnehmungsbeispiele der Stadt. In diesen von Walter Benjamin treffend „Denkbilder“[2] genannten Texten zeugten sie von dem Zusammenspiel der Sinne in einer die Zeichen des Zeitgeistes ohnehin bereits kumulativ darbietenden Umgebung.

 

Zunehmend setzt sich das Leben des Stadtbewohners aus unpersönlichen Inhalten zusammen, sodass er geneigt ist, das Extremste was er an Eigenheit und Charakteristikum aufzuweisen hat, noch zu übertreiben und in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Dies täte er um sich selbst überhaupt als Individuum wahrnehmen zu können, meint Georg Simmel, der selbst in Berlin aufwuchs.[3] Als Produkt dieses Versuchs findet man folglich in der Stadt den ‚Glanz’ und die Künste, und nicht zuletzt auch ziehen Kunstschaffende in die Stadt, weil sie sich dort zum Ausdruck bringen können und Publikum finden. Zudem findet sich in den Metropolen alles, was nicht unbedingt zum Überleben notwendig ist, sondern darüber hinauswächst: das Erhebliche, das Herausragende, das Besondere.

 

Selbst, wenn sich das urbane Erlebnis auf das Flanieren auf offener Strasse beschränkt, bietet sich dem Betrachter ein kaleidoskopischer Flux an Sinneseindrücken, die sich über das Gewöhnliche hinausheben. Vor den Augen des ziellosen Schlenderers entfaltet sich ein Stück Lebensbühne, die durch die Freiheit des Flaneurs, sich handlungsirrelevanten Sachverhalten zuzuwenden, verstärkt aus dem Sinnzusammenhang gerissen wird – vielleicht, weil in der Stadt gar kein ‚grosser’, alles miteinander verbindender Bezugsrahmen existiert, es sei denn jener, den das Individuum für sich herstellt. Der Flaneur erhält sozusagen die Aufgabe, die Wahrnehmungsparameter so zu gestalten, dass die auf ihn hereinströmenden Eindrücke seiner künstlichen urbanen Umgebung eine sinnvolle Beziehung zueinander bilden. Eine überaus anspruchsvolle Herausforderung, die den Protagonisten dieses Spektakels zuweilen regelrecht in Rausch versetzt.

 

Der „Strassenrausch“[4], den Siegfried Kracauer auf der ersten Seite seines Sammelbandes „Strassen in Berlin und anderswo“ prägt, muss somit mehr sein, als eine Metapher. Den Rausch, von dem er spricht, muss das Subjekt, im Sinne eines veränderten Bewusstseins, wahrlich erleben, indem es sich den Sinneseindrücken der Stadt unter besonderen Rahmenbedingungen, wie etwa  äusserste soziale Isolation, aussetzt. Der Zustand, den der Flaneur dabei erlebt, sollte demnach durchaus vergleichbar sein mit unseren konventionellen Rauschbegriffen.

 

Um diese Hypothese zu überprüfen, sollen zunächst einige Überlegungen zum Begriff Rausch gemacht werden, und anschliessend Textbeispiele besprochen werden.

 

 

(2) (Strassen-)Rausch

 

Der Rausch ist nach dem Duden in drei Bedeutungselemente geteilt:

 

1. durch Genuss von zu viel Alkohol, von Drogen o. Ä. hervorgerufener Zustand, in dem eine mehr od. weniger starke Verwirrung der Gedanken u. Gefühle eintritt; 2. übersteigerter ekstatischer Zustand; Glücksgefühl, das jmdn. über seine normale Gefühlslage hinaushebt (ein Rausch der Leidenschaft, der Geschwindigkeit, des Erfolgs, des Sieges); 3. (geh.) betäubende Vielfalt (ein Rausch von Farben, Klängen, Blüten)[5]

 

 

Der Strassenrausch von Kracauer bedarf keiner Einnahme von bewusstseinsverändernden Substanzen wie Alkohol oder Drogen. Eine „betäubende Vielfalt“ an Sinneseindrücken bieten die Strassen unzweifelhaft; das Interesse hier gilt jedoch dem Zustand des Flaneurs. Dieser lässt sich ausschliesslich mit dem zweiten zitierten Bedeutungselement beschreiben. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit man beim Strassenrausch tatsächlich von einem Gefühlshoch, wie hier angedeutet wird, sprechen kann.

 

Neben der Einnahme von Substanzen, die auf die Informationsübermittlung, beispielsweise des Gehirns, einwirken und den normalen Ablauf stören bzw. ändern kann, kann das Phänomen des Rauschempfindens auch durch die verstärkte Ausschüttung körpereigener Hormone ausgelöst werden.[6] Endorphine werden etwa bei körperlichen Höchstleistungen, wie etwa Marathonläufen oder exzessivem Tanzen, verstärkt ausgeschüttet um Schmerzen zu lindern und Ermüdungserscheinungen erträglich zu machen. Eine erhöhte Adrenalinausschüttung erfolgt zumeist in bedrohlichen, ängstigenden Situationen. 

 

Rausch, im konventionellen Sinne, kann nicht nur eine Veränderung des Gefühlslebens zum Ausdruck bringen, sondern schliesst Bewusstseins-veränderung mit ein. Darüber hinaus lässt sich anmerken, dass Rausch in etwas weiterem Sinne auch mit Sinnestäuschung und Wahrnehmungsstörung verbunden sein kann.

 

Ein weiterer Gedanke ist, dass der Rausch sich als ein durch das Individuum selbst herbeigeführter Zustand (ohne Einnahme von fremden Substanzen) einstellen kann. Es kann etwa eine Situation erzeugt werden, in der sich das Subjekt mit Bedacht von seinem Wissen löst und sich frei fremden Reizen und seinen eigenen Assoziationen überlässt. So macht der Flaneur eine Erfahrung, die ausschliesslich auf eigener Wahrnehmung beruht. Das Wissen, das er zuvor über die Stadt hatte, besass er von anderen, folglich kann er sich nicht vorbehaltlos und unter allen Umständen darauf verlassen. Bücher, Stadtpläne, Lehrer und Bekannte dienten ihm als Informationsquelle, Kommunikation leistete das, wofür jetzt das eigene Empfindungs- und Interpretationsvermögen eingesetzt wird. Anstelle der Medien treten nun seine eigenen Wahrnehmungsorgane. Das Objektive wird vom Subjektiven abgelöst und prädominiert nicht länger.

„Dem Diktat des einen wissenden Ich entkommen, überlasse ich mich dann der Wahrnehmung des ganzen Leibes und dem Wettstreit seiner Organe und spüre, dass ich als Leib jetzt erst zu Wort komme, wo das angeberische Ich schweigt.“[7]

 

Das physiognomische Denken tritt somit in Vordergrund, das aus dem Wechselspiel der Sinne eines sich selbst überlassenen, von der Menge abgesonderten Subjekts entsteht.

 

Im Folgenden soll überprüft werden, in wie weit mit Hilfe der oben genannten Definitionen von Rausch an den von Kracauer geprägten Begriff „Strassenrausch“ angenähert werden kann. Zur Überprüfung der Hypothese dienen fünf ausgewählte Texte Kracauers, wobei die letzteren beiden kürzeren Texte nur knapp besprochen werden sollen. Die Texte wurden erstmals in der Feuilletonbeilage der Frankfurter Zeitung abgedruckt und sind später in dem in 1964 von Kracauer selbst zusammengestellten Sammelband Strassen in Berlin und anderswo erschienen.

 

 

(3) Erinnerung an eine Pariser Strasse

(FZ 9. November 1930)

 

Kracauer hat diesen Text viele Jahre nach seiner Entstehung an den Anfang seines Sammelbandes gestellt. Dies kann man nur als einen Hinweis darauf deuten, dass er ihn als durchaus gelungen eingestuft, oder zumindest als Eröffnungstext, dem Titel des Bandes trotzend, in der dem Schauplatz Paris nur eine marginale Rolle bedacht wird, für würdig gefunden hatte. Tatsächlich ist Erinnerung an eine Pariser Strasse unvergleichlich reich an Metaphern, die dem Reich der Architektur und der Natur entnommen sind. Verspielt lässt Kracauer Bilder auftreten, und ihre Wirkung auf den flanierenden Protagonisten durch prägnante und bedeutungsschwere Sinnbilder erlebbar werden.

 

Der Strassenrausch selbst ist eine unwiderstehliche „Besessenheit“[8]. Die Zusammenkünfte mit Frauen erscheinen dem Flaneur dagegen wie eine „Pflichtvergessenheit, wie eine törichte Ablenkung von den Strassen“[9]. Demgegenüber beanspruchen ihn und fordern ihn die Strassen heraus und winken ihm umso verführerischer „hinter dem Nebel, den die zunehmende Müdigkeit“[10] um ihn herum verbreitet.

 

Dem Flaneur entgeht nichts, er beobachtet alles, dennoch scheint er sich in einer entrückten Wirklichkeit zu befinden. Paris ist nicht nur eine Stadt, es ist wie die Natur: Ihre Bestandteile sind „ineinandergewachsen wie die Glieder von Lebewesen“. Ohne einander sind sie nichts, zusammen fügen sie sich zu einer eigenständigen Grösse. Wie die vier Elemente der Natur ergeben sie ein Ganzes, das viel mehr ist, als die Summe ihrer Bestandteile. Der Himmel weist auf das Luft-Element, die „ausgetrocknete[n] Flussläufe und blühende[n] Steintäler“[11] verkörpern die Erde, Boden und Wände werden flüssig wie Wasser und „das Dickicht der Schornsteine“[12] entfacht bildhaft das Feuer.

 

Der besagten Strasse „begegnet“[13] der Flaneur wie einer Person. Die Leibhaftigkeit der Strasse wird später auch durch Fenster hervorgehoben, die „zahnlosen Mündern“[14] gleichen.

 

Seine Gedanken tragen ihn hoch hinaus über seine tatsächliche Grösse, der Flaneur wächst sozusagen über sich hinaus. Es ist das Bild eines Einzelgängers, dessen Füsse fest in den Boden, den sie begehen, verankert sind, doch, welcher mit seinen Gedanken Wolken zu streifen scheint. Da sich der von Erkundungsdrang getriebene im Rausch fortbewegt,

„fließen die Seitenwände und Pflasterböden unmerklich zusammen, und ehe er sich’s versieht, gerät der Träumende wie zu ebener Erde über senkrechte Mauern bis zu den Dächern und weiter, immer weiter ins Dickicht der Schornsteine hinein.“[15]

 

So verschmilzt förmlich das rege subjektive Erleben mit den Reizen der Aussenwelt zu einem berauschenden Durcheinander, das erlebt, verstanden und erklärt werden will.

 

Nicht von einer Verwirrung der Sinne, vielmehr von einer Überempfindlichkeit des Flaneurs gegenüber seiner Umgebung zeugt hingegen die häufige Vermischung und Kreuzung von Raum- und Zeitbegriffen. So hat er „die deutliche Empfindung“, dass er sich

„nicht nur im Raum bewegte, sondern oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang. Ein geheimer Schmuggelpfad führte ins Gebiet der Stunden und Jahrzehnte, dessen Straßensystem ebenso labyrinthisch angelegt war wie das der Stadt selber.“ [16]

 

Um den Protagonisten herum bildet sich hierdurch eine vierdimensionale Komposition, die auf überraschende Weise das Raum-Zeit-Kontinuum durchbricht. Die besagte Strasse ist „nur wenige Minuten lang“, demonstriert ein weiterer Ausdruck die Hypersensibilität des Spazierenden für subjektives Messen und Interpretieren.

 

Sein Rausch vermag den Flaneur zu führen, so wird er bezeichnenderweise zeitweilig zum Patiens. Dem Subjekt der Erinnerung, wird durch den Strassenrausch schon im ersten Satz Objektstatus verliehen. Immer wieder verliert er seine Agens-Funktion: Der Sog der Strassen lässt ihm diese verführerisch winken, die Strasse, in die er „verschlagen wurde[17], gibt ihn nicht frei. Ihm werden von den Burschen und Frauen, die auf ihn aus den Obergeschossfenstern beobachten, Fesseln angelegt, und etwas weiter im Text wird ihm „durch ein lebendes Bild“[18] eines Mannes in einem Hotelzimmer „Halt geboten“[19], das Bild stellt sich ihm in den Weg.

 

Er wird der Angst des Mannes gewahr, wie er auch seine eigene Verstörtheit spürt: Er muss die Mauer betasten um zu spüren, dass sie fest aus Stein ist, und stellt fest, dass die vorhin noch fensterlose Theaterwand beim zweiten Anblick „mit richtigen Mietshausfenstern besetzt“[20] zu sein scheint. Seine Verwirrung, die sich in einem bizarren Zusammenspiel von scheinbar objektiver Wahrnehmung und ureigener, äusserst subjektiver Gefühlswahrnehmung und Interpretation der Aussenwelt ausdrückt, macht den Flaneur beklommen und erzeugt Furcht in ihm. Selbst die lärmende Kindergruppe, dessen überraschendes Auftauchen ihn für einen kurzen Moment zu erleichtern vermag, löst sich einem Phantom gleich in einem unachtsamen Moment auf und bestätigt nur die angsteinjagende Merkwürdigkeit der Strasse, dessen „jenseitiges Ufer“[21] unerreichbar scheint.

 

Schliesslich kapituliert er: Nachdem er sich offenbar nur noch mit letzter Kraft aus der Strasse retten konnte, gesteht er ein, sich seither nie wieder in die Nähe der Strasse gewagt zu haben. Somit bleibt an der Erfahrung etwas sonderbar Unwiederholbares haften.

(4) Strasse ohne Erinnerung

(FZ 16. Dezember 1932)

 

Während die Erinnerung an eine Pariser Strasse nach fast drei Jahren lebendig ist und sich in schillernder Metaphorik auszudrücken vermag, liegt der Nachdruck im zwei Jahre später abgedruckten Text um die Vergänglichkeit, ja, Täuschbarkeit dieser; bereits die beiden Titel veranschaulichen den Kontrast. Im Mittelpunkt steht diesmal die Schliessung zweier Lokale auf dem Berliner Kurfürstendamm, die exemplarisch für das Kommen und Gehen der Räumlichkeiten auf dem Strassenzug steht. Dieser wird demzufolge zur „Verkörperung der leer hinfließenden Zeit in der nichts zu dauern vermag“[22]. Den Ausgangspunkt dieser vorweggenommenen Schlussfolgerung bilden auch diesmal Erinnerungen, die jedoch, von einander überschlagenden Ereignissen völlig verschüttet, gänzlich in Vergessenheit geraten sind: „Der immerwährende Wechsel tilgt die Erinnerung“[23]. Die Reminiszenz wird folglich erst durch ein zweites Ereignis hervorgerufen, das den Untergang des ersten im Gedächtnis erst ins Bewusstsein ruft. Um die einst „altvertraute“[24] Teestube gedanklich wieder aufleben zu lassen, bedarf es eines äusseren Anstosses: der  Wiederholung derselben Erfahrung, des unerwarteten Vorfindens eines geschlossenen Lokals. Ohne diesen wäre sie „auf Nimmerwiedersehen dahin“[25], „als sei sie überhaupt nicht gewesen“[26].

 

In Paris hat „die Gegenwart den Schimmer des Vergangenen“[27]. In Berlin demgegenüber, befindet sich alles im Wandel, scheint nichts lange zu dauern. Die Vergangenheit scheint hier ohnmächtig gegenüber einer zukünftigen Gegenwart, die sie in einem fort, beharrlich auszulöschen sucht.

 

„Sonst bleibt das Vergangene an den Orten haften, an denen es zu Lebzeiten hauste; auf dem Kurfürstendamm tritt es ab, ohne Spuren zu hinterlassen.“[28]

 

Mit dieser Feststellung bezieht sich der Text nochmals auf seinen Titel. Die rasante Veränderung der Strasse scheint zu radikal um den Gebäuden ihre Geschichte, und ihre Eigenheit entwickeln zu lassen, zu substantiell der Wandel, um Vergangenheit nachwirken zu lassen.

 

Trug und Schimäre spielen folglich in der Perzeption der Strasse eine grosse Rolle. So bezeugt der Flaneur bisweilen sogar seine Bewusstheit über seine Verunsicherung etwa hinsichtlich des Zeitpunkts der Schliessung der Teestube.  Dennoch ist dieser Text sprachlich weitaus nüchterner gehalten als Erinnerung an eine Pariser Strasse, und auch Metapherneinschübe sind seltener.

 

Gewichen ist ebenfalls die fesselnde Agens-Funktion, welche die Pariser Strassen auszeichnete und Zeuge ihres starken individuellen Eigenlebens war. Hier präsentieren sich die Häuser als verstümmelte Objekte, die bestenfalls noch als herumlungernde Überbleibsel ihr Dasein fristen, nachdem ihnen ihr Gesicht genommen wurde:

„Man hat vielen Häusern die Ornamente abgeschlagen, die eine Art Brücke zum Gestern bildeten. Jetzt stehen die beraubten Fassaden ohne Halt in der Zeit und sind das Sinnbild des geschichtslosen Wandels, der sich hinter ihnen vollzieht.“[29]

 

Entgegen der offensichtlichen Geschäftigkeit und Lebendigkeit, die auf einer vom Protagonisten beschriebenen Strasse herrschen muss, beschränkt sich dessen einzige Kenntnisnahme von Menschen auf „stumm und mechanisch“ [30]  im Kreis drehende Paare hinter den Fenstern einer Parterrewohnung, die auf ihn wirken wie aufgezogene Marionetten.

 

 

(5) Abschied von der Lindenpassage

(FZ 21. Dezember 1932)

 

Ebenfalls die Erinnerung dominiert diesen Text, der mit einer Schlussfolgerung beginnt: „Die Lindenpassage hat aufgehört zu bestehen.“[31] Genauer gesagt haben wir es mit einem Wechsel aus Erinnerung zu tun: einem Rückblick an die alte Passage und einer gegenwärtigen Aussicht auf das Neue, auf das, was aus der Passage durch „kalte, glatte Marmorplatten“[32] und Glasdach gemacht wird. Dabei bezieht der Erzähler Position: Das Gegenwärtige zerstört die Wirkungskraft des Vergangenen. Die alte Lindenpassage, eine „echte bürgerliche Passage“[33], war imstande Kritik zu üben, sie hatte Macht über die Öffentlichkeit, weil es ihr entwich. Zugleich beherbergte sie das von der Bürgerlichkeit „Ausgestossene und [in die Passage] Hineingestossene“[34] und stellte als eine unter anderem „der Körperlichkeit gewidmeten“[35] Vielgestaltigkeit offen zur Schau.

 

Kracauer spielt mit den Sinnbildern des Lichts und des Raumes. Die Passage wird immer wieder betont im „Dämmerlicht“ dargestellt, als eine Nische im Halbdunkel. Die vom bürgerlichen Idealismus „unterdrückte[n]“ Gegenstände im „innere[n] Sibirien der Passage“ sind „erniedrigt“ und ihre Existenz geschändet. Diese wirken aber äusserst lebendig und rächen sich an der bürgerlichen Front, wo es „hoch“ hergeht. Folglich endet die Wirkungskraft der „überlegenen“ Gebärden und der Grossspurigkeit der Renaissancepracht am Passageneingang. Ebenso leidet das Ansehen der „höheren und höchsten Herrschaften“[36] unter dieser aktiven Kritik des Durchgangs, „die jeder rechte Passant begriff“[37].

 

Menschen kommen inmitten dieses bunten Durcheinanders aus sinnfälligen Gegenständen, die voller Dynamik und Leben sind, gar nicht oder nur andeutungsweise vor. Die Passage selbst und ihre Gegenstände sind die Kritikübenden, während Menschen durch Abwesenheit glänzen und durchweg in Schweigen gehüllt sind. Eigentlich sind es die Menschen, die „mit Stummheit geschlagen“ sind, entgegen Kracauers abschliessenden, misstraurischen Bemerkung gegenüber der Neutralität der neuen Fassade, in der es heisst:

 Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus [sic!] oder auch gar nichts.“[38]

 

 

(6) Lokomotive über der Friedrichstrasse

(FZ 28. Januar 1933)

Dem Leser wird in diesem Text durch den Blick eines „fremde[n] Gast[es]“[39] auf die Friedrichstrasse ein Perspektivenwechsel geboten: Die Stadt mutiert unter dem Panoramablick eines Lokomotivführers, der den Triebwagen genau oberhalb der Friedrichstrasse angehalten hat, zur „Weltachse“[40], die „Himmel und Erde verdrängt“[41]. Der betriebsame Trubel auf der Strasse und ihr heller Glanz muss für den Mann, dessen stundenlange Fahrt in der Dunkelheit nur durch vereinzelte düstere Bahnhofshallen beleuchtet wurde, so überwältigend sein, dass der Anblick der Strasse seine Erinnerungsbilder tilgt und ihn wie eine „lodernde Linie“[42] umgaukelt: sie „ist bald nicht mehr in Zeit und Raum zu bannen“[43].

 

 

(7) Die Unterführung

(FZ 11. März 1932)

Mit einem „Gefühl des Grauens“[44] durchmisst der Flaneur die Unterführung dicht beim Bahnhof Charlottenburg, die er auch „eine klirrende Höllenpassage“[45] nennt. Auf der Suche nach den Ursachen des Grauens, das über diesen unterirdischen Wegstück regiert, stellt er die Konstruktion und die Menschen in ihr einander gegenüber. Dem strengen Bau fehlt zwar „jede Heiterkeit“[46], doch zeichnet er sich trotz seiner Finsterkeit durch einen düsteren Zusammenhang seiner Elemente aus, der „für alle Zeiten gefügt ist“[47] und der ihnen eine Funktion, somit einen Sinn, eine Aufgabe, verleiht. Passanten hingegen eilen hindurch, ohne voneinander, oder den „Dauerbewohner[n]“[48] der Unterführung Kenntnis zu nehmen. Letztere scheinen dem erzählenden Betrachter eher mit der Mauer zu verschmelzen, aus ihr hervorzuquellen, als untereinander eine Einheit zu formen. Im Gegenteil: die erfolglosen Bettler und der Bäcker werden als „auseinandergesprengte Teile (…), unzusammen-hängende Splitter eines Ganzen, das nicht vorhanden ist“[49] wahrgenommen.

 

 

(8) Schlussbetrachtung

 

Kracauers Beobachtungen ähneln einer Hieroglyphen-Entzifferung. Die Stadtbilder gleichen dabei schwer lesbaren Schriftzeichen, die intensiv studiert werden müssen, bevor sie sinnvoll ins Bewusstsein aufgenommen werden können. Scheinbar ziellos schlendernd, müssig streunend, entschlüsselt der Flaneur jedoch mühevoll immer wieder neue Manifestationen sozialer Realität auf den Strassen, beständig dechiffriert er die Botschaft, die sich zwischen den Zeilen der Stadtbilder und -schriften versteckt. 

 

Zuweilen muss er vor dieser Aufgabe kapitulieren: Als der Flaneur vor der neuen Verkleidung der Lindenpassage steht, verliert er den Mut. Die Sicht auf das Geheimschriftbild der Architektur ist ihm verstellt worden und sein in der Vergangenheit gut bewährtes Analysesystem funktioniert nicht mehr. Kracauers programmatische Botschaft ist subtil, aber klar: diese neue Passage der Gesellschaft ist unberechenbar.

 

Kracauers Texte sind fallspezifisch, und phänomenbezogen beschrieben, dennoch entblösst sich durch die Flanerie der Charakter der Städte. Es gibt eine allgemein interpretierbare Ebene, in der herrschende gesellschaftliche Strukturen erkennbar werden. Die so zutage tretenden gesellschaftlichen Vorgänge folgert der Flaneur aus seinem kreativen Umgang mit der urbanen Inquisition. Ausschliesslich seine eigenen Empfindungen sind ihm dabei dienlich, die sich schliesslich in der Varietät seines Metapherngebrauchs widerspiegeln.

Während des Beobachtens verschlägt es dem Subjekt jedoch die Sprache, schweigsam nimmt er in seiner selbst gewählten Einsamkeit die Aussenwelt in sich auf; und, erst während der Erinnerung, im Nachhinein, wird das Erlebte wortgewandt artikuliert.

 

Dass der Erzähler so wenig Notiz von den ihn umgebenden Menschen nimmt und völlig in der Beschreibung seiner unmittelbaren Erlebnisse aufgeht, mutet als ein Zeichen seiner freiwilligen Isolierung in seiner Destination zur Flanerie an. Anonymität spielt eine erhebliche Rolle beim Auskundschaften der strukturellen Zusammenhänge seiner Umgebung. Der Flaneur ist im Wesentlichen frei von Einschränkungen und Zwängen, seiner Aufmerksamkeit kann er ungehindert freien Lauf lassen. Diesen Hang zur Unabhängigkeit und eine Abneigung gegenüber chronologischer oder intellektueller Festlegung hat bereits Gerwin Zohlen sehr treffend in seinen Anmerkungen zu Kracauers „Strassen...“ in Bezug auf Kracauer bemerkt:

 

„Exterritorialität und Anonymität sind die markantesten Begriffe des Selbstverständnisses von Siegfried Kracauer. Ersterer, die Fremdheit, reflektiert dabei auch die Erfahrungen des Exiliertseins. (...) Als Haltung greift die Exterritorialität über diese politisch-historischen Tatsachen gleichwohl hinaus. Sie charakterisiert Kracauer ebenso wie der Wunsch nach Anonymität“.[50]

 

Die Abwesenheit von Zielstrebsamkeit und die Isolation gegenüber seinen Mitmenschen verhelfen den Flaneur in eine Position, Beobachtetes aus seinen Angeln zu heben und im neuen, erweiterten Kontext zu beleuchten. Der Flaneur tut sich durch eine besondere Wahrnehmungsschärfe hervor, er beobachtet Dinge, denen gewöhnliche Passanten keine Beachtung schenken, nimmt neue Perspektiven ein, wie etwa die jenes Lokomotivführers auf der Friedrichstrasse.

 

Auch die physische Verfassung des Flaneurs spielt eine Rolle: Die zunehmende Müdigkeit, die um den Protagonisten des Textes Erinnerung an eine Pariser Strasse einen Nebel erzeugt, steigert die Anziehungskraft der Strassen, belebt scheinbar seinen Rausch.

Die Modulation der Raum-Zeit-Empfindung kann als eine Folge der Technik verstanden werden, die Wahrnehmung kann sich im Zuge der allgemeinen Beschleunigung (z.B. des Verkehrs), die in Städten am stärksten zutage tritt, verschieben.

 

Die genannten Faktoren rechtfertigen eine Bewusstseinsveränderung beim Flanieren, wenngleich diese nicht zwingend mit einer gehobenen Gefühlslage, ebenso wenig mit einem extatischen Zustand einhergeht. Während jedoch andere Individuen innerhalb der urbanen Sphäre die Masse der Isolation vorziehen und vornehmlich Zerstreuung suchen, weiss das Subjekt in Kracauers Texten um die berauschende Wirkung des gezielt ziellosen Streunens. Er versteht es, die Voraussetzungen für äusserste Wahrnehmungsschärfe und Erlebnisintensität zu schaffen.

 

 

(9) Bibliographie

 

Deutsches Universalwörterbuch, Duden Verlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 1996

 

Kracauer, Siegfried: Strassen in Berlin und anderswo. Das Arsenal Berlin, 1987

 

Mattenklott, Gert: Der mythische Leib: Physiognomisches Denken bei Nietzsche, Simmel und Kassner. In: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Suhrkampf, Frankfurt am Main, 1983

 

Zohlen, Gerwin: Bilder der Leere. Anmerkungen zu Kracauers „Strassen in Berlin und anderswo“. In: Kracauer, Siegfried: Strassen in Berlin und anderswo. Das Arsenal Berlin, 1987, S. 121-128

 

 

     Internetquelle

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Rausch



[1] Mattenklott, Gert: Der mythische Leib: Physiognomisches Denken bei Nietzsche, Simmel und Kassner. In: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Suhrkampf, Frankfurt am Main, 1983. S.145.

[2] Zohlen, Gerwin: Bilder der Leere. Anmerkungen zu Kracauers „Strassen in Berlin und anderswo“. In: Kracauer, Siegfried: Strassen in Berlin und anderswo. Das Arsenal Berlin, 1987, S. 121

[3] vgl. Mattenklott, a.a.O.

[4] Kracauer, Siegfried: Strassen in Berlin und anderswo. Das Arsenal Berlin, 1987. S. 7.

[5] Deutsches Universalwörterbuch, Duden Verlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 1996.

[6] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Rausch

[7] Mattenklott, a.a.O., S. 138

[8] Kracauer, a.a.O., S. 7

[9] ebd.

[10] ebd.

[11] ebd.

[12] ebd.

[13] Kracauer, a.a.O., S. 7

[14] Kracauer, a.a.O., S. 9

[15] Kracauer, a.a.O., S. 7

[16] Kracauer, a.a.O., S. 8

[17] Kracauer, a.a.O., S. 7; Hervorhebung von mir, A.L.

[18] Kracauer, a.a.O., S. 9

[19] ebd.

[20] ebd.

[21] ebd.

[22] Kracauer, a.a.O., S. 15

[23] Kracauer, a.a.O., S. 17

[24] Kracauer, a.a.O., S. 15

[25] Kracauer, a.a.O., S. 18

[26] Kracauer, a.a.O., S. 17

[27] Kracauer, a.a.O., S. 11

[28] Kracauer, a.a.O., S. 17

[29] Kracauer, a.a.O., S. 18

[30] Kracauer, a.a.O., S. 17

[31] Kracauer, a.a.O., S. 24

[32] Kracauer, a.a.O., S. 24

[33] ebd.

[34] ebd.

[35] Kracauer, a.a.O., S. 25

[36] Kracauer, a.a.O., S. 28; alle Hervorhebungen von mir, A.L.

[37] ebd.

[38] Kracauer, a.a.O., S. 29

[39] Kracauer, a.a.O., S. 33

[40] Kracauer, a.a.O., S. 34

[41] ebd.

[42] ebd.

[43] ebd.

[44] Kracauer, a.a.O., S. 38

[45] ebd.

[46] ebd.

[47] ebd.

[48] Kracauer, a.a.O., S. 39

[49] ebd.

[50] Zohlen, a.a.O., S. 121